Sozialgeschichte der modernen Arbeitsgesellschaft - Kolloquium zum 60. Geburtstag von Klaus Tenfelde

Sozialgeschichte der modernen Arbeitsgesellschaft - Kolloquium zum 60. Geburtstag von Klaus Tenfelde

Organisatoren
Dirk Schumann; Helke Stadtland; Benjamin Ziemann
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.04.2004 - 03.04.2004
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Von
Alexander Schwitanski, Ruhr-Universität Bochum; Stefan Moitra

Am 2. und 3. April fand im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets, Bochum, das Kolloquium Sozialgeschichte der modernen Arbeitsgesellschaft anlässlich des 60. Geburtstags von Klaus Tenfelde statt. Das von Dirk Schumann, Helke Stadtland und Benjamin Ziemann organisierte und von der Fritz Thyssen Stiftung finanzierte Kolloquium versammelte zahlreiche wissenschaftliche Weggefährten Klaus Tenfeldes, welche die Resultate der bisherigen Arbeit auf dem Gebiet der Sozialgeschichte resümierten und mögliche Perspektiven der künftigen Forschung in einem Zweig der Geschichte aufzeigten, der sich immer weiter differenziert und angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen auch nach neuen methodischen Ansätzen verlangt.

Im ersten Beitrag ging Jürgen Kocka (Freie Universität Berlin) der Frage nach, woraus sich der Attraktivitätsverlust der bislang innerhalb der Sozialgeschichte so wichtigen Geschichte der Arbeiter erkläre und ob vielleicht eine neue Geschichte der Arbeit, deren Rahmen noch abzustecken sei, an deren Stelle treten könne. Die frühere Popularität der Arbeitergeschichte besonders in den 60er und 70er Jahren verdankte sich nach Kocka der positiven Wertbesetzung des Arbeiterbegriffs. Das Kollektivsubjekt Arbeiterklasse war als historischer Agent Teil einer Utopie, mit ihm verbanden sich optimistische Zukunftsaussichten. Diese Erwartungen seien heutzutage dahin und mit ihnen auch das Interesse an der Arbeitergeschichte. Der Begriff der Arbeit habe hingegen, wie Kocka mittels eines Querschnitts durch die verschiedenen Utopien seit der Frühen Neuzeit zeigen konnte, stets eine wichtige Rolle innerhalb des utopischen Denkens gespielt und habe auch jetzt noch eine offene Zukunft. Dabei zeige sich auch, dass die Wertbesetzung der Arbeit zwar stets ambivalent gewesen sei, insgesamt aber die Geschichte der Arbeit eine Geschichte ihrer Aufwertung sei.

Methodisch zeigten sich für die Geschichtsschreibung mehrere Dimensionen auf. Zunächst könne der Einstieg über eine Begriffsgeschichte der Arbeit versucht werden, die, wenn sie die Anlehnung an die Realgeschichte suche, direkt auch in die Sozialgeschichte führe. Die Frage nach Art und Weise, wie über Arbeit geschrieben würde, und ihr Warum führten zum Aufschluss eines breiten Erfahrungsraums mit der Arbeit. Es zeige sich, dass der Begriff der Arbeit seit dem 19. Jahrhundert zunehmend auf den Begriff der Erwerbsarbeit verengt worden sei. Der Ausschluss zahlreicher Tätigkeiten, die in älteren Arbeitsbegriffen noch enthalten gewesen seien, reflektiere die Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftens und der industriellen Fertigung, damit einhergehend die Durchsetzung neuer Geschlechterrollen, die Trennung von Privat- und Arbeitsleben und dergleichen mehr. Als weitere Dimension müssten die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wie die der Massenarbeitslosigkeit und ihrer Folgen mitbedacht werden. Die Frage sei, wie die gesellschaftlichen Entwicklungen auch das persönliche Leben beeinflussten. Wie wirkten Mechanismen der Bedürfniserzeugung und -befriedigung durch und in der Arbeit, und wie beeinflussten die Wachstumsgrenzen des gesellschaftlichen Wohlstands und die Arbeitsbedingungen die Konstitution des Individuums, zum Beispiel durch die Grenzziehung zwischen Arbeit und Leben oder durch Aufhebung ihrer Grenzen? Zu fragen sei auch nach der Dimension der persönlichen Erfahrungen, der Deutung der Arbeit für das eigene Leben von Subjekten, ihrer Verortung in gesellschaftlichen Hierarchien durch die Arbeit und ähnlichem mehr, beschrieben möglichst getrennt für einzelne Epochen, Räume, Klassen etc.

Die anschließende Diskussion des Beitrags zeigte vor allem die Weite einer Geschichte der Arbeit auf, aber auch, dass gängige methodische Herangehensweisen vielleicht von der aktuellen Entwicklung schon überholt sein könnten. Gefragt wurde etwa, ob es noch sinnvoll sei, eine Geschichte der Arbeit nach Räumen getrennt zu untersuchen, wenn Arbeit mittlerweile ein Exportgut geworden sei? Eine Geschichte der Arbeit würde noch weitere Entwicklungsverwerfungen zeigen, wie zum Beispiel die Tradierungen von Erwartungshaltungen des 19. Jahrhunderts, die durch das Arbeitsrecht festgeschrieben seien, der aktuellen Arbeitswelt aber nicht gerecht würden.

Ähnlich wie Kocka versuchte auch Stefan Berger (University of Glamorgan) in seinem Beitrag über "Die europäische Arbeiterbewegung und ihre Historiker" einen Überblick über historiographische Entwicklungen, über die Grenzen der bisherigen und Perspektiven der neueren Forschung zu liefern. Berger kontextualisierte zunächst die verschiedenen Phasen der Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung. So fiel deren Hochzeit zusammen mit der Blüte der Sozialdemokratien in Westeuropa und der damit zusammenhängenden Kritik sozialdemokratischer Politik durch die Studentenbewegung und Teile der akademischen Wissenschaft. Die Beschäftigung mit der historischen Arbeiterbewegung funktionierte hier gleichzeitig als Traditionspflege einerseits und andererseits als identitätsstiftende Suche nach einem ‚Dritten Weg' zwischen der Politik der Sozialdemokratien im Westen und den staatssozialistischen Regimen in Osteuropa.

Analog dazu war die Krise der Arbeiterbewegungsgeschichte mit der Krise der Sozialdemokratien in den 80er Jahren verbunden. Die Historiographie dieser Dekade zeichnete sich, so Berger, vor allem durch Syntheseleistungen auf der Basis der bisherigen politik- und sozialgeschichtlichen Forschung aus. Einen weiteren Schwerpunkt bildeten aber auch Bemühungen - etwa bei den Linzer Tagungen, am Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam oder auch am Institut zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung in Bochum -, vergleichende Perspektiven über nationale Grenzen hinweg zu eröffnen. Hier wurden etwa Versuche unternommen, die Stärke des Marxismus und des Syndikalismus in unterschiedlichen nationalen Zusammenhängen oder den Umgang der verschiedenen Arbeiterbewegungen mit der Herausforderung des Faschismus zu betrachten.

Schließlich kam es in den 90er Jahren zu einer entscheidenden Wende innerhalb der theoretischen Ausrichtung der Forschung. Mit der Hinwendung zu poststrukturalistischen Fragestellungen verschob sich das Interesse von der Betonung sozial- und organisationsgeschichtlicher Themen hin zur Produktion von Identitäten. In den Mittelpunkt rückten der Einfluss von Kategorien wie Nation, Geschlecht oder Religion auf die Diskurse der Arbeiterbewegungen und die Frage, wie sich diese in der Praxis niederschlugen. Während sich eine Fülle neuerer Arbeiten an solch innovativen Perspektiven orientierte, konstatierte Berger die Persistenz des "Schattens des Marxismus" in den weiterhin stärker politisch ausgerichteten Teilen der Forschungslandschaft. Besonders die Kritik an gegenwärtigen sozialdemokratischen Regierungen á la New Labour verbinde sich mit der narrativen Verbrämung alter Vorstellungen von Arbeiterbewegung durch eine ältere Generation von Historikern. Zu fragen sei hingegen, ob sich nicht die Ziele der neuen Sozialdemokratien immer noch mit denen der alten Arbeiterbewegung deckten, nämlich Armut zu verringern und die bürgerliche Gesellschaft sozial zu unterfüttern.

Irmgard Steinisch (York University, Toronto) betrachtete unter dem Titel "American Dream and American Nightmare" in einem biographischen Zugriff das Leben des US-amerikanischen Bergarbeiterführers John L. Lewis. Als Vorsitzender der United Mine Workers von 1919 bis 1960 stellte Lewis eine der herausragenden Figuren der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert dar; er personifiziert für Steinisch gleichzeitig deren Konfliktreichtum. Als Funktionär sei Lewis Machtmensch gewesen, der nach dem Motto "Männer machen Geschichte" lebte. Tatsächlich existiere, so Steinisch, kaum private Überlieferung über Lewis, so dass sich sein Leben fast nur als öffentliche Person nachvollziehen lasse. Dem Anspruch des "Geschichte machens" entsprach auch sein Selbstverständnis als Gewerkschafter. So sei Lewis der typische Vertreter des Konzepts eines "business-unionism" gewesen, demzufolge Gewerkschaften von ihrer Funktionselite als markteffektiv arbeitende Unternehmen zu führen waren.

Mit diesem Autoritätsanspruch verband sich aber auch ein pragmatisches Eintreten für die "bread and butter issues" der Gewerkschaftsbasis. Der Kampf für Arbeitnehmerrechte war allerdings nicht durch weitergehende politische Ideen motiviert, es ging ausschließlich darum, den amerikanischen Arbeitern "einen größeren Teil des Kuchens" zu erringen, wie Steinisch hervorhob. Insofern waren die USA für Lewis bereits eine klassenlose Gesellschaft, während er gleichzeitig Europa als Land traditioneller Klassenschranken betrachtete. Unterdrückung und Armut in den USA waren demnach allein Missstände, auf die es aufmerksam zu machen galt, nicht aber integrale Bestandteile des Kapitalismus.

Als öffentliche Person stand Lewis zwischen den Polen der "mythischen Verehrung" durch die Gewerkschaftsbasis und des "blanken Hasses", der ihm als "korruptem" und "reichem" Funktionär entgegengebracht wurde. Diese Wahrnehmung beruhte einerseits auf seiner Rolle als zentraler Akteur während des New Deal. Andererseits stieß Lewis vor allem tarifpolitisch durch reine Blockadestrategien an die Grenzen seines Erfolgs. Nicht zuletzt wegen seiner Streikpolitik während des Zweiten Weltkriegs traf er auf Widerstand, einer Politik, die im Übrigen 1947 zur gesetzliche Einschränkung des Streikrechts führte. In der amerikanischen Öffentlichkeit wurde Lewis so zum Prototyp des machtversessenen und korrupten Gewerkschaftsfunktionärs.

Gerald D. Feldman (University of California, Berkeley) hinterfragte in seinem Beitrag die Relevanz moralischer Kategorien für die deutsche Unternehmensgeschichte und die daraus erwachsenen Beschränkungen der Interpretationskraft der bisherigen Geschichtsschreibung. Die Unternehmensgeschichte selber zeige einen deutlichen Wandel, den Feldman als Historisierung ihres Gegenstandes begriff und vor dessen Hintergrund die methodischen Probleme der ältere Unternehmensgeschichte besonders deutlich würden. Als Beispiel für diesen Prozess griff Feldman einen Beitrag Tenfeldes auf, der den signifikanten Wandel im Verhalten deutscher Unternehmer besonders in dessen politischen Bezügen seit den 1960er Jahren als einen generationell bedingten Mentalitätswandel beschrieben hatte. Beiträge wie dieser zeugten von einer stärkeren, im eigentlichen Sinne historischen Annäherung an den Gegenstand der Unternehmensgeschichte im Vergleich zu den älteren Deutungen vor allem marxistisch geprägter Historiker, die das Verhalten der Unternehmer nur aus ihren geschichtsphilosophischen Grundannahmen zu deuten wussten und es trotzdem nicht unterließen, in ihrem Interpretationshorizont als notwendig vorhergesagte Verhaltensweisen moralisch zu kritisieren. Mit ähnlichen Vorgaben belastet, begegneten die an den Arbeitern interessierten Sozialhistoriker den Unternehmern als Gegenstand der Geschichtsschreibung, ebenso jene deutschen Historiker, die an der These des deutschen Sonderwegs festhielten und Unternehmen und Unternehmer in ihre Interpretationslinien mit einbezogen. So entstand ein stark moralisiertes Bild der deutschen Unternehmer als einer durch autoritäre Leitbilder geprägten Personengruppe, unwillig, sich auf demokratische Spielregeln einzulassen. Diesem Bild mangelte es jedoch an einer kritischen Überprüfung durch den internationalen Vergleich.

Während so die Unternehmer in der Perspektive vieler Historiker mitschuldig an den deutschen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts geworden seien, fühlten sich viele Unternehmer durch diese Geschichtsschreibung nicht angesprochen. Sie produzierten ein eigenes Bild ihrer Geschichte, das sich in Festschriften niederschlage und von der Geschichtsschreibung nicht kontrolliert werde. Hier erschienen oft genug die Unternehmen als Opfer der deutschen Geschichte und der wechselnden deutschen Regime; die Verbindung von Unternehmen, Gesellschaft und Politik erscheine aus dieser Perspektive genau so prekär wie aus derjenigen der Historiker, allerdings unter umgekehrten moralischen Vorzeichen. Diese nebeneinander stehenden Geschichtsbilder, verhärtet durch die jeweils bezogene moralisch geprägte Perspektive, gelte es aufzubrechen. Die Möglichkeiten dazu seien, so Feldman, seit dem Wegfall der marxistischen Positionen günstig. Feldman verlangte, dass Historiker sich mit der spezifischen Logik wirtschaftlicher Entscheidungsfindung auseinandersetzen müssten. Spätestens seit den Arbeiten Borchardts müsse es möglich sein anzuerkennen, dass einige der wirtschaftspolitischen Entscheidungen von Unternehmern aus der Logik des wirtschaftlichen Systems heraus richtig gewesen seien. Unternehmensgeschichte müsse sich auch als Teil der Wirtschaftsgeschichte und ihrer strukturellen Vorgaben verstehen, andererseits aber auch die Geschichte der Unternehmen einbinden in die weitere Gesellschaftsgeschichte. So sei beispielsweise die Akzeptanz demokratischer Spielregeln durch Unternehmer Teil eines Sozialisationsprozesses der ganzen westdeutschen Gesellschaft gewesen.

Die Diskussion richtete Kritik vor allem auf eine Überbetonung der Zwänge wirtschaftlicher Logik in der unternehmerischen Entscheidungsfindung. Große Unternehmen seien eben auch soziale Akteure und müssten auch entsprechende Gesichtspunkte in ihre Entscheidungen einbeziehen; wenn sie nur nach wirtschaftlichen Interessen handelten und dabei, wie zum Beispiel gegen Ende der Weimarer Zeit den Kollaps der Republik beschleunigten, hätten sie falsch gehandelt. Zu einem großen Teil richteten sich unternehmerische Entscheidungen auch nicht rein nach rational-wirtschaftlichen Kriterien, sondern seien etwa geprägt durch kulturelle Vorgaben und ähnliches. Hier die Einflüsse auf das unternehmerische Handeln aufzuzeigen sei eine Aufgabe für die Unternehmensgeschichte.

Während sich die vorangegangenen Vorträge vornehmlich auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts bezogen, lenkte John Breuilly (University of Birmingham) mit einem Referat über das bürgerliche Vereinswesen den Blick auf das 19. Jahrhundert. Breuilly zentrierte sein Thema um die Begriffe Assoziation, Zivilgesellschaft und Bürgertum, wobei es ihm vor allem um die Rolle des Vereinswesens bei der Formierung bürgerlicher Identität sowie um die Einübung zivilgesellschaftlicher und liberaler Praktiken in Deutschland und England ging. Zunächst konstatierte der Vortragende jeweils unterschiedliche Herangehensweisen der deutschen und britischen Historiographie: In beiden Ländern sei zwar die Erforschung des Vereinswesens in die allgemeine Stadtgeschichte eingebunden, jedoch seien Differenzen in der Auswahl der untersuchten Städte und Themen zu beobachten. In der britischen Forschung betreffe dies maßgeblich die herausgehobene Stellung Londons, die schon fast einen eigenen Forschungszweig zur Stadtgeschichte der Hauptstadt nach sich gezogen habe. Erst an zweiter Stelle komme die Geschichte der "second cities", der neueren, kleineren Industriestädte. Meist werde mit diesem Ansatz eine Stadt zunächst für sich untersucht, so dass systematische Thematisierungen von Sozialstrukturen, wie die Formierung des Bürgertums erst in der Zusammenschau geschehe. In der deutschen Historiographie gehe man dagegen eher deduktiv von bestimmten Problemkomplexen aus, um auf dieser Grundlage Städte als Untersuchungsobjekte auszuwählen und sich ihrer Geschichte anzunehmen.

Nichtsdestotrotz haben sich britische und deutsche Historiker gleichermaßen mit dem Problem des Assoziations- und Vereinswesens als wichtiger Form bürgerlicher Kultur im 19. Jahrhundert beschäftigt, wobei sich in beiden Ländern sowohl eine breitere wie eine engere Definitionsmöglichkeit des Begriffs Verein bzw. Assoziation herausgebildet habe. Der engeren Definition nach zeichne sich das Assoziationswesen, dem britischen Historiker Robert J. Morris folgend, vor allem durch einen strikt säkularen Charakter sowie durch einen formalen Universalitätsanspruch aus, demzufolge zumindest prinzipiell jeder Mitglied der Vereinigung werden konnte. Diese Merkmale ließen sich, so Breuilly, allerdings bereits auf Gruppierungen des 18. Jahrhunderts anwenden, so dass das spezifisch Neue des bürgerlichen Vereinswesens hier nur schwer offenbar werde. Außerdem übersehe Morris' Zugang, zumal in England, die breite Vereinstätigkeit religiös gebundener Gruppierungen.

Einen weitergehenden Ansatz sah Breuilly dagegen in einer stärker modernisierungstheoretisch untermauerten Perspektive, die außer dem Vereinswesen des städtischen Bürgertums auch die Vereinigungen anderer sozialer Gruppen einbezieht und nach Interdependenzen zwischen beiden sucht, etwa in der Beziehung der bürgerlichen zu den proletarischen Vereinen. In dieser Perspektive lasse sich der Verein stärker als Medium gesellschaftlichen Wandels begreifen. Dennoch bringe auch dieser breiter vergleichende Ansatz nach Breuilly Schwierigkeiten mit sich, da er kaum generalisierende Aussagen zulasse.

Nach diesen eher theoretischen Überlegungen kam Breuilly anhand zweier Beispiele auf das rein bürgerliche Vereinswesen zurück, um den weiten Bogen der Funktionen aufzuzeigen, denen die Assoziation dienen konnte. Das erste Beispiel behandelte die Bestrebungen oftmals religiös motivierter bürgerlicher Gruppen in England, Erziehungseinrichtungen für die Kinder der pauperisierenden Schicht zu schaffen - Bestrebungen, die von der Einrichtung von Sonntagsschulen bis hin zur Agitation für das Eingreifen des Staates reichten. Das zweite Beispiel betraf die Einrichtung und "Erfindung" öffentlicher Museen durch bürgerliche Kunstvereine sowohl in Deutschland wie in England. Im Gegensatz zu den Reformbestrebungen im Erziehungswesen sei der Zweck der Vereinigung hier ausschließlich auf die Ausprägung bürgerlicher Kultur ausgerichtet gewesen. In beiden Fällen könnten jedoch - unabhängig von nationalen Unterschieden - generalisierende Momente hervorgehoben werden: die Einübung bestimmter sozialer, kommunikativer Praktiken sowie die Etablierung einer kollektiven Meinungsbildung und zivilgesellschaftlichen Handelns. Dennoch bleibe, so Breuilly, ein Gegensatz im Assoziationswesen beider Länder zu konstatieren. Während sich in England gleichsam eine allgemeine liberale Kultur aus dem Netz des Vereinswesens heraus entwickelt habe, sei dieses in Deutschland sehr viel stärker um spezifische politische Milieus zentriert gewesen, die untereinander nur wenig Austausch gepflegt hatten. Im Gegensatz zur britischen "liberalen Kultur" habe sich in Deutschland eher eine "Kultur des Liberalismus" im Sinne eines liberalen Milieus entwickelt.

Die Interdependenzen von Geschlechtergeschichte und Geschichte des Sozialstaats beleuchtete Merit Niehuss (Universität der Bundeswehr, München) in ihrem Referat. Sie zeigte, wie sowohl sozialstaatliche Maßnamen Geschlechterrollen bestimmten und zementierten, als auch, wie die Analyse der Geschlechterpolitik des Sozialstaats durch die Geschlechtergeschichte die Bilder vom Sozialstaat und sozialgeschichtliche Kategorien veränderten. Auch die Entwicklung der Geschlechtergeschichte selber sei letztlich abhängig von den Entwicklungen des Sozialstaats.

Alle westeuropäischen Sozialstaaten basierten, so die Beobachtung Niehuss', zunächst auf dem gemeinsamen Modell des Familienernährers. Darüber hinaus zeigten unterschiedliche Sozialstaatsmodelle Westeuropas aber eine hohe Variationsbreite der durch ihre Maßnahmen geschaffenen Geschlechter- und Familienbilder. In Deutschland zeige sich traditionell eine besonders starke Betonung des Familienernährermodells und damit eine starke Differenzierung der Geschlechterrollen. Das klassische Sozialversicherungssystem beziehe sich auf den Mann als Hauptverdiener. Die Familie komme nur als Abhängige in den Blick des Systems, die Erwerbsarbeit der Frau werde darum in die Rolle des Zuverdienstes abgedrängt. Sozialstaatliche Maßnahmen gegenüber Frauen seien dagegen häufig repressiv gewesen, zum Beispiel als Verbotsgesetze in Gestalt von Arbeitsschutzgesetzen. Die Sicherung einer selbständigen wirtschaftlichen Existenz für Frauen sei eindeutig nicht das Ziel der Politik des deutschen Wohlfahrtsstaates gewesen, vielmehr sei eine Festschreibung des bürgerlichen Familienideals der Bismarckzeit als gesellschaftliches Leitbild erfolgt. In Schweden dagegen sei zum Beispiel durch die Volksrente eine selbständige Alterssicherung auch für Hausfrauen möglich, die hauptsächlich weiblich definierte Reproduktionsarbeit somit als gesellschaftlich wichtig anerkannt worden, worin sich die Erfahrung des Agrarstaates spiegele. An Mütter ausgezahlte staatliche Kinderbeihilfen sowie ein umfassendes Betreuungswesen hätten in Schweden und besonders auch in Finnland zu einer anderen Kultur weiblicher Selbständigkeit geführt, damit auch zu einem anderen Typus von Sozialstaat. Da allerdings jeder Sozialstaat, gleich welchen Typs, angewiesen sei auf die Arbeitsleistung der Gesellschaft, wirkten sich die konservativen Geschlechtermodelle in Deutschland nun auch negativ auf den Sozialstaat selber aus, da die sinkende Geburtenrate auf das Versäumnis von Maßnahmen zurückzuführen sei, die dem Selbständigkeitsstreben von Frauen hätten entgegenkommen können, zum Beispiel in Form der öffentlichen Kinderbetreuung.

Die Geschichte des Sozialstaats sei nur ein Beispiel dafür, wie die analytischen Kategorien der Geschlechtergeschichte gewinnbringend auf viele Gegenstände der Sozialgeschichte angewandt werden könnten, da Geschlechterrollen als strukturelle Variable in allen gesellschaftlichen Funktionssystemen von Bedeutung seien.

Zum Abschluss der Konferenz trug Hans-Ulrich Wehler (Universität Bielefeld) in seinem Beitrag über "Paradigmata in der Geschichtswissenschaft und die Gesellschaftsgeschichte" ein Plädoyer für die Synthesefähigkeit der Geschichtswissenschaft vor. An den Beginn stellte er einen zeitlichen Vergleich: Während im Jahr 1952 in Ost- und Westdeutschland insgesamt 52 historische Lehrstühle existierten, beständen gegenwärtig mehrere Hundert davon mit buchstäblich Tausenden von Assistenten und Mitarbeitern. Schon an diesem Zahlenbeispiel lasse sich die Diversifizierung der Fachinteressen und Untersuchungsthemen nachvollziehen. Gerade angesichts einer solchen Bandbreite der Forschung sah Wehler die Notwendigkeit, Synthesen zu schaffen, die sowohl den Anforderungen der spezifischen Disziplinen, der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen wie auch dem Interesse einer breiteren Öffentlichkeit gerecht würden. Im Anschluss daran lieferte Wehler einen Überblick über die verschiedenen Synthesekonzeptionen, die in der heutigen Geschichtswissenschaft relevant erschienen. Eine Reihe neuerer Arbeiten und Ansätze lasse sich demnach nach wie vor in einen eher politikgeschichtlichen Rahmen einfügen, auch wenn sie sich innovativer Perspektiven und Methoden bedienten. Dies betreffe sowohl Forschungen zum europäischen Staatsbildungsprozess im Zusammenhang seiner Verflechtungen in transnationale/transkontinentale Zusammenhänge als auch den rein europäisch begrenzten Vergleich von Nationalstaaten. Weitere Perspektiven seien vergleichende Arbeiten zur Wirtschafts- oder Verfassungsgeschichte moderner Staatlichkeit. So breit sich Forschungen unter dem Vorrang des Politischen entfalten mögen, so stießen sie Wehler zufolge letztlich dort an Grenzen, wo der Begriff der Gesellschaft ausgeblendet bleibt.

Ähnliches konstatierte Wehler für Theorieansätze poststrukturalistischer und konstruktivistischer Art. Die Systemtheorie erweise sich als zu abstrakt, um sich auf einem mittleren Reflexionsniveau zu konkretisieren. Und auch die neuere Kulturgeschichte vermöge zwar Schwachstellen innerhalb der überkommenen Strukturgeschichte aufzuzeigen, zu einer tragfähigen Syntheseleistung sei es jedoch nie gekommen. Dies liege auch daran, dass der Kulturbegriff in der deutschen Forschung zu wenig in seinen strukturellen Zusammenhang gestellt werde. So wies Wehler darauf hin, dass etwa der britische "culture"-Begriff viel eher der deutschen Kategorie "Gesellschaft" entspreche, und auch Michel Foucault habe durchaus auf die Einbettung des Diskurses in den sozialstrukturellen Kontext hingewiesen.

Als alternativen und gegenwärtig einzig praktikablen Weg der Synthese bot Wehler den von ihm entwickelten Begriff der Gesellschaftsgeschichte an, der sich auf die Analyse der strukturellen "Achsen" von Wirtschaft, politischer Herrschaft, Sozialstruktur und Kultur beziehe. Wenn man auch einwenden könne, dass mit seinem Ansatz wichtige historische Kategorien wie Recht oder subjektive Erfahrung ausgeblendet blieben, so müsse man dennoch zugestehen, dass die historische Synthese auf einer "säuberlichen Zergliederung" bestehen müsse, die durch noch weitergehende Dimensionen unmöglich gemacht werde. Letztlich stehe die Entwicklung eines wahrhaft konsensfähigen Paradigmas zur geschichtswissenschaftlichen Forschungssynthese aus. Innerhalb einer pluralistischen Geschichtswissenschaft bleibe es insofern auch weiterhin bei pluralistischen Zugängen zur Geschichte.

In der Diskussion um das Referat Wehlers kristallisierten zahlreiche der Faktoren, die das Fach Sozialgeschichte in der Vergangenheit spannend und fruchtbar haben werden lassen und auch künftig die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich ziehen werden, die aber gleichzeitig den Anspruch des Fachs problematisch erscheinen lassen. Bemängelt wurde, dass das Vier-Achsen-Modell Wehlers zahlreiche Untersuchungsgegenstände außer Acht lasse, die sich in der neueren Forschung bereits als geschichtsbildende Faktoren erwiesen hätten. Probleme der historischen Genese von Rollen, Identitäten und Leitbildern seien in Wehlers Geschichte nicht vorhanden, auch fehle ein Bewusstsein für die Bedeutung des Historikers selber als Akteur, dessen Forschung durch die eigene Erfahrung mit vorstrukturiert sei. Dagegen wurde eingewandt, dass die weitere Ausweitung der Gesellschaftsgeschichte diese entgrenze und nicht länger handhabbar mache - ein Einwand, den mancher allerdings für bereits überholt hielt. Schließlich zeige bereits die Gesellschaftsgeschichte Wehlers, dass die vier Achsen recht unverbunden nebeneinander stünden. Zusammengeführt würden sie nur an bestimmten Eckpunkten der Erzählung, die so geradezu teleologischen Charakter erhielten. Um dem zu entgehen, sei es notwendig, sich von der Illusion einer einheitlichen Gesellschaft und ihrer Geschichte zu lösen und sich auf die Beschreibung der Vielzahl konfligierender Elemente zu beschränken.

Als das Kolloquium nach dieser Diskussion schloss, hatte es zahlreiche Wege sozialgeschichtlicher Forschung verfolgt und ihren heutigen Stand markiert. Die gerade in der letzten Diskussion konzentrierten Meinungsunterschiede zeigten jedoch auch, dass Gesellschaftsgeschichte weiterhin ein Konzept von spannungsgeladener Offenheit und Aufgabe für die weitere Forschung bleibt.